Gerüchteküche Twitter: Wie ein Raketeneinschlag Social Media zum Beben bringt

von | 18.11.2022 | Tipps

Der Raketeneinschlag auf polnischem Boden vor einigen Tagen hat mal wieder eindrucksvoll gezeigt: Auf Twitter verbreiten sich Gerüchte und Spekulationen im Eiltempo – und setzen traditionellen Medien unter Druck.

Vor einigen Tagen hat die Welt den Atem angehalten. Ein bisschen Kuba-Krise-Feeling. Denn in Polen sind auf polnischem Grund Raketen eingeschlagen, oder zumindest Überreste. Zwei Menschen sind dem zum Opfer gefallen. Und gleich Spekulationen: russische Raketen? Nato-Fall? Was passiert jetzt?

Auf Twitter und in anderen Social Media Diensten ist das normal. Aber auch die tradierten Medien wollten nicht abwarten und haben gleich spekuliert, es könnten russische Raken gewesen sein – mit den dann unvermeidlichen Konsequenzen.

Eine unbekannte Rakete, die auf russischem Boden einschlägt, bringt das Netz zum Beben – und Falschnachrichten schaffen es unwidersprochen in die linearen Medien. Ein Lehrstück dafür, wie Journalismus heute funktioniert – oder eben auch nicht funktioniert.

Einfluss auf traditionelle Medien ist groß

Einfluss auf traditionelle Medien ist groß

Chronologie der Ereignisse

Es war am Dienstag (15.11.2022) kurz nach 18 Uhr, als erste Meldungen über einen Einschlag einer Rakete in Polen kursierten. Unter dem Hashtag #Polen haben lokale polnische Medien Meldungen verbreitet, später sogar mit Fotos und Videos, die über einen Einschlag in einer Getreidetrocknungsanlage auf polnischem Gebiet nahe der ukrainischen Grenzen berichten. Zwei Tote.

„Möglicherweise russische Raketen“, so der Verdacht. Schnell wurden diese Tweets weiterverbreitet, angereichert mit Hashtags wie #Nato und #Bündnisfall, was der Sache natürlich weiteren Nachdruck verleiht. Die Algorithmen der Social-Media-Netzwerke lieben solche Situationen: Schnelle Reaktionen, Retweets, emotionale Reaktionen.

Das bekommt dann früher oder später jeder zu sehen. Und die Meldungen verbreitet sich – völlig ungeprüft – wie eine Wahrheit tausendfach, millionenfach. Weil sich der ukrainische Präsident Selenskij schnell sicher war: Das war eine russische Rakete – es besteht Handlungsbedarf, reichte vielen das schon als Beleg des Verdachts. Hashtags wie #Nato und #Bündnisfall trendeten explosionsartig. Schon um 19 Uhr war sozusagen #Weltkrieg.

Hacker-Kollektiv Anonymous

Twitter ist ein Ticker für Politik und Medien

Nun könnte man ja sagen: Twitter – da sind gerade mal sechs bis sieben Millionen Deutsche. Das ist keine seriöse Nachrichtenquelle. Wieso hat sich das Thema dann so schnell weiterentwickelt?

Weil Twitter heute für viele eine Art „Nachrichten-Ticker“ ist. Man kann nachweisen, indem man bei Google Trends nachschaut – hier werden Suchanfragen auf Google chronologisch und nach Volumen eingeordnet: Ab Dienstag Abend, so 19 Uhr, haben die Menschen verstärkt nach „Nato“ gesucht. Es gab also augenblicklich einen deutlich erhöhten Bedarf nach Einordnung und Aufklärung – und da gab es noch keinen Hinweis auf das Ereignis in den linearen Medien.

Google Trends: Nato trendet - für 48h

Google Trends: Nato trendet – für 48h

Die Menschen wollten wissen, was da los ist. Das wissen auch Redaktionen – und versuchen dieses Interesse zu bedienen. Klicks sind Gold wert. Sie berichten dann ungeprüft, was auf Twitter gemeldet wird. Dadurch bekommen erste Tweets auf Twitter gleich einen seriöseren Anschein. Da die meisten Journalisten auf Twitter unterwegs sind – wir haben ja schon öfters darüber gesprochen –, bekommen sie mit, was auf Twitter trendet.

Um 20 Uhr wurde der Einschlag bereits in der Tagesschau gemeldet, freilich ohne zu behaupten, die Rakete wäre von den Russen. Es wurde aber auch nicht gesagt, dass man es eben nicht wisse – was jetzt kritisiert wird. Bild war natürlich auch sehr schnell – online und Print. Da hieß es gleich: „Putin feuer Raketen nach Polen“ und „Putin spielt mit dem Weltkrieg“. Es wurde auch geschrieben: „Die russische Armee hat Polen bombardiert“. Wie wir heute wissen: alles falsch. Das war angesichts der Faktenlage viel zu voreilig.

Twitter ist ein Ticker für Politik und Medien

Selbst eine seriöse Sendung wie „Report aus Mainz“ (ARD) berichtet von russischen Raketen, die eingeschlagen seien, obwohl das noch gar nicht feststeht. Ebenso mehrere Zeitungen. Was führt dazu, dass so etwas passiert?

Das Problem ist: Nachrichten sind immer ein schnelles Geschäft. Im wahrsten Sinne des Wortes Geschäft: Journalisten wollen immer die ersten sein, die über etwas berichten. Seriöse Journalisten prüfen Quellen. Das Netz prüft nichts. Da kann jeder alles behaupten, ein Honk wie ein Präsident.

Und die Algorithmen entscheiden, was viral geht – natürlich auch die Nutzer, durch ihr Verhalten. Wahrheit hat keinen Wert. Emotionalität und Reaktion haben einen Wert. Das ist nicht journalistisch, aber Journalisten verspüren erkennbar einen Druck.

Sie wissen: Im Netz kursieren Nachrichten blitzschnell. Wir wollen nicht diejenigen sein, die nicht reagieren und nichts wissen. Also werden sogar Verdachtsfälle als vermeintliche Erkenntnisse erwähnt oder gemeldet. Ungeprüft. Das ist unter Qualitätsgesichtspunkten natürlich eine Katastrophe, weil die Unzulänglichkeiten der Netzwerke in die sogenannten Qualitätsmedien eindringen. Tempo kommt vor Gewissheit und Gewissenhaftigkeit.

Journalismus in einer Zwickmühle

Aber das Problem ist doch: Berichten Journalisten gar nichts, informieren sich die Menschen ausschließlich in den Social Media Diensten – und werden im Zweifel desinformiert, also mit interessengelenkten Falschinformationen ziemlich manipuliert. Das klingt nach einer ganz schönen Zwickmühle

Genau – und das ist auch der Druck, den Journalisten sehen. Aber hier müssen Redaktionen und Journalisten lernen, auch den Mut zu haben und zu erklären: Es gibt Gerüchte und bestenfalls Meldungen auf Twitter und Co., das muss aber nichts bedeuten.

Es könnte auch ganz anders sein. Wir müssen das erst seriös prüfen. Auch wenn es schwer fällt, müssen aber auch die Menschen, die sich informieren wollen, in Geduld üben. Es gibt nicht auf alles gleich Antworten – schon gar keine gesicherten und einfachen. Auch wir, die wir Medien konsumieren, haben uns angewöhnt, die Prinzipien der Social Networks zu übernehmen: Alles – sofort. Das ist ein riesiger Fehler.

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