Wikipedia gegen Grokipedia: Wenn Elon Musk die Wahrheit neu erfindet

von | 09.11.2025 | Tipps

Wikipedia feiert bald seinen 25. Geburtstag. Ein Vierteljahrhundert freies Wissen, geschrieben von Menschen für Menschen. Keine Werbung, keine versteckten Absichten, nur eine weltweite Community, die gemeinsam die größte Enzyklopädie der Welt erschafft. Klingt fast altmodisch in Zeiten von ChatGPT und Co., oder? Ausgerechnet jetzt kommt Elon Musk und will zeigen, wie es besser geht: mit Grokipedia, einer komplett von KI kuratierten Alternative.

Die Frage ist nur: Brauchen wir das wirklich? Oder ist das der nächste gefährliche Schritt in Richtung KI-Propaganda?

Wikipedia läuft besser als je zuvor

Lasst uns mit einer Überraschung starten: Wikipedia ist quicklebendig! Die Plattform ist immer noch die neuntmeist besuchte Website weltweit – über 4 Milliarden Visits pro Monat. Die deutsche Wikipedia allein hat fast 3 Millionen Artikel, weltweit sind es über 60 Millionen in mehr als 300 Sprachen.

Während andere Plattformen kommen und gehen, ist Wikipedia einfach da. Verlässlich. Stabil. Unspektakulär vielleicht, aber genau deshalb so wertvoll. Das Grundprinzip hat sich nicht geändert: Menschen schreiben gemeinsam Artikel, diskutieren, prüfen Quellen. Alles transparent, alles nachvollziehbar.

Gründer Jimmy Wales hat gerade ein neues Buch veröffentlicht: „The Seven Rules of Trust“ – die sieben Regeln des Vertrauens. Darin erklärt er, wie Wikipedia es geschafft hat, eines der vertrauenswürdigsten Projekte im Internet zu bleiben. Die wichtigste Regel? Neutralität. Nicht im Sinne von „beide Seiten sind gleich richtig“, sondern: Zeige alle Standpunkte fair, aber gewichte sie nach Faktenlage.

Wikipedia bleibt auch in Zeiten von KI ein Leuchtturm
Wikipedia bleibt auch in Zeiten von KI ein Leuchtturm

Vertrauen ist das neue Gold

In Zeiten von Fake News und Desinformation ist das absolut Gold wert. Studien zeigen: Menschen vertrauen Wikipedia gerade deshalb, weil keine kommerzielle oder politische Agenda dahintersteckt. Die Community kontrolliert sich gegenseitig. Klar gibt es manchmal Edit-Wars, klar gibt es Fehler. Aber die werden offen diskutiert und korrigiert.

Wales bringt es auf den Punkt: „Wenn Menschen nicht mehr wissen, was sie glauben können, vertrauen sie am Ende niemandem mehr.“ Und genau hier liegt Wikipedias größte Stärke – das kollektive Wissen einer weltweiten Community, die sich selbst korrigiert.

Natürlich gibt es Kritik. Elon Musk zum Beispiel nennt Wikipedia gerne „Wokepedia“ und behauptet, es werde von „linksextremen Aktivisten kontrolliert“. Aber schaut euch die Fakten an: Die Wikipedia-Community ist tatsächlich ziemlich homogen – überwiegend männlich, überwiegend Tech-affin. Deshalb sind Artikel über USB-Standards oft top, während andere Themenbereiche dünner ausfallen. Das ist ein Problem, aber kein politisches. Wikipedia arbeitet daran, diverser zu werden.

Grok3: Elon Musks KI-Unternehmen xAI hat eine leistungsfähige Version seines Chatbot vorgestellt
Grok3: Elon Musks KI-Unternehmen xAI hat eine leistungsfähige Version seines Chatbot vorgestellt

KI braucht Wikipedia – nicht umgekehrt

Jetzt kommt die große Frage: Ist Wikipedia in Zeiten von KI überhaupt noch zeitgemäß? Viele junge Leute fragen doch einfach ChatGPT, wenn sie etwas wissen wollen. Laut Reuters nutzen derzeit etwa 7 Prozent der Menschen KI für Informationen, bei den unter 25-Jährigen sind es 15 Prozent.

Aber – und das ist entscheidend – KI ist bei Fakten oft miserabel. Die EBU-Studie von Anfang des Jahres hat gezeigt: 45 Prozent der KI-Antworten zu aktuellen Themen enthalten Fehler. ChatGPT hat im Mai noch behauptet, Papst Franziskus sei das Oberhaupt der katholischen Kirche – obwohl er da bereits verstorben war.

Was viele nicht wissen: KI-Systeme werden auf Wikipedia trainiert! ChatGPT, Gemini und Co. brauchen Wikipedia, um überhaupt zu funktionieren. Ohne menschlich kuratiertes Wissen hätten sie nur Müll. Wikipedia ist also nicht das Opfer der KI-Revolution, sondern deren Grundlage.

Enter Grokipedia: Elon Musks gefährliches Experiment

Vor einer Woche hat Musk Grokipedia gelauncht – seine „Antwort“ auf Wikipedia. Eine komplett KI-kuratierte Enzyklopädie, geschrieben von seiner KI „Grok“. Sein Versprechen: „Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.“ Grokipedia werde Wikipedia „um mehrere Größenordnungen übertreffen“.

Aktuell hat Grokipedia rund 885.000 englischsprachige Artikel. Und jetzt wird es peinlich: Viele davon sind einfach von Wikipedia kopiert! Teilweise Wort für Wort. Unten drunter steht dann brav: „Adaptiert von Wikipedia unter Creative Commons Lizenz.“

Moment mal – Musk kopiert Wikipedia, lässt seine KI drüberschauen und behauptet dann, es sei besser? Das ist absurd.

Wenn KI die Vergangenheit umschreibt

Die ersten Reaktionen auf Grokipedia waren vernichtend. Akademiker und Faktenchecker haben die Plattform in den ersten Tagen zerpflückt:

Erstens: Sachliche Fehler. Die KI macht grundlegende Fehler bei Fakten – wie bei jedem Chatbot eben.

Zweitens: Politische Schlagseite. Beim Thema Klimawandel werden unwissenschaftliche Thesen verbreitet. Beim Sturm auf das Kapitol wird verharmlost. Beim AfD-Artikel fehlen die Begriffe „Antisemitismus“ und „Rassismus“, obwohl die von Behörden offiziell verwendet werden.

Drittens: Absurde Quellen. Zum Ukraine-Krieg wird die russische Regierungswebsite zitiert. Für Verschwörungstheorien deren Urheber.

Und der Hammer: Der Hitler-Artikel. In der ersten Version wurde eingangs Hitlers „Führungsstärke“ und die wirtschaftlichen Erfolge der 1930er Jahre gewürdigt – bevor der Holocaust überhaupt erwähnt wurde. Nach einem Shitstorm musste das geändert werden.

Jimmy Wales hat klar Stellung bezogen: „Die KI-Modelle werden massive Fehler machen. Sie sind nicht gut genug, um Enzyklopädie-Einträge zu schreiben.“

Der entscheidende Unterschied

Bei Wikipedia kann ich sehen, wer was geschrieben hat, welche Quellen genutzt wurden, welche Diskussionen es gab. Ich kann selbst mitschreiben, korrigieren, diskutieren. Bei Grokipedia ist alles eine Black Box unter Musks Kontrolle. Nutzer können nur Fehler melden. Ob die korrigiert werden? Wer weiß.

Die Frage ist also: Wem vertrauen wir? Einer weltweiten Community von Freiwilligen – oder einem Milliardär mit offensichtlicher politischer Agenda?

Für mich ist die Antwort klar. Wikipedia ist nicht perfekt. Aber es ist transparent, unabhängig und wird von Menschen für Menschen gemacht. Und das ist in Zeiten von KI-Propaganda wichtiger denn je.

Wikipedia wird 25 – und gerade deshalb ist es aktueller denn je. Denn wenn KI die Vergangenheit umschreibt, brauchen wir Menschen, die aufpassen. Menschen, die diskutieren. Menschen, die widersprechen dürfen.

Das ist die wahre Superkraft von Wikipedia: Nicht die Perfektion, sondern die Transparenz. Nicht die Allmacht einer KI, sondern die Vielfalt einer Community.

In diesem Sinne: Spendet Wikipedia was, wenn ihr das nächste Mal deren Banner seht. Denn freies Wissen hat seinen Preis – aber der ist es wert.