TikTok vermehrt unter Druck: Eine Gefahr für Kinder?

TikTok vermehrt unter Druck: Eine Gefahr für Kinder?

TikTok: Harmlose Unterhaltung oder gefährliche Suchtfalle? Wir beleuchten die dunkle Seite der beliebten Video-App und ihre Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche.

Ein aktuelles US-Gerichtsurteil könnte weitreichende Folgen für soziale Medien haben: TikTok muss sich für den Tod einer Zehnjährigen verantworten. Gleichzeitig fordert der deutsche Drogenbeauftragte ein Verbot für Kinder unter 12.

Tod durch Blackout Challenge auf TikTok

Als die zehnjährige Nylah Anderson aus dem US-Bundesstaat Pennsylvania im Dezember 2021 von ihren Eltern leblos in ihrem Zimmer aufgefunden wurde, ahnte niemand, dass ihr Tod in den USA eine grundlegende Debatte über die Verantwortung sozialer Medien auslösen würde.

Eine auf TikTok verbreitete „Blackout Challenge“ hatte das junge Mädchen damals dazu verleitet, sich selbst zu strangulieren (es wurde in TikTok-Videos so vorgemacht) – mit fatalen Folgen: Das junge Mädchen ist dabei gestorben.

Die Blackout Challenge auf TikTok ist ein extrem gefährlicher Trend, bei dem sich Teilnehmer vor laufender Kamera bis zur Bewusstlosigkeit würgen. Das Ziel ist es, einen Zustand der Ohnmacht zu erreichen und diesen Moment zu filmen. Diese lebensgefährliche Herausforderung hat bereits zu mehreren Todesfällen geführt, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 8 bis 14 Jahren. Die Risiken reichen von Ohnmacht über Koma bis hin zum Tod durch Sauerstoffmangel

Blackout Challenge: Würgen oder Drücken bis zur Ohnmacht
Blackout Challenge: Würgen oder Drücken bis zur Ohnmacht

Als Reaktion auf die tödlichen Folgen hat TikTok alle Beiträge zur Challenge gelöscht und zeigt Warnhinweise bei entsprechenden Suchanfragen an. Dennoch haben betroffene Eltern das Unternehmen verklagt, da der Algorithmus angeblich solche gefährlichen Videos fördert. Experten und Eltern betonen die Notwendigkeit von Aufklärung und Prävention.

Sie empfehlen, offen mit Kindern über die Gefahren zu sprechen, ihre Online-Aktivitäten zu überwachen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Schulen und Eltern spielen eine wichtige Rolle dabei, Jugendliche über die Risiken aufzuklären und ihnen einen kritischen Umgang mit sozialen Medien beizubringen.

TikTok vor Gericht: Ein Präzedenzfall mit weitreichenden Folgen

Am Dienstag (27.08.2024) ließ ein US-Berufungsgericht eine Klage gegen TikTok zu, in der die Eltern das Unternehmen für den Tod der jungen Nylah verantwortlich machen. Bislang konnten sich Onlinedienste in den USA hinter einer Regel verstecken, dass Onlinedienste nicht für die Inhalte verantwortlich sind.

Doch Richterin Patty Shwartz hat – erstmals in der US-Geschichte – komplett anders entschieden: Sie argumentiert, dass TikTok sehr wohl eine Schuld treffen könnte, weil der Empfehlungsalgorithmus der Plattform der jungen Schülerin diese gefährlichen Inhalte ausgespielt hat.

Junge Menschen informieren sich vor allem auf TikTok
Junge Menschen informieren sich vor allem auf TikTok

Der Algorithmus ist entscheidend

Diese Entscheidung könnte die bisherige Auslegung des „Communications Decency Act“ von 1996 grundlegend verändern. Die Art und Weise, wie Algorithmen Inhalte ausspielt (wem wird was gezeigt), seien als „redaktionelle Entscheidungen“ zu werten und somit eine Form der Meinungsäußerung des Unternehmens selbst.

Diese Neuinterpretation könnte weitreichende Konsequenzen haben. Jeffrey Goodman, der Anwalt von Nylahs Mutter, brachte es auf den Punkt: „Die großen Technologiekonzerne haben gerade ihre ‚Du kommst aus dem Gefängnis frei‘-Karte verloren“.

Diese Sichtweise stellt einen Paradigmenwechsel dar. Bisher konnten sich soziale Medien in den USA darauf berufen, lediglich eine neutrale Plattform für nutzergenerierte Inhalte zu sein. Künftig könnten sie für die Auswirkungen ihrer Algorithmen zur Verantwortung gezogen werden.

TikTok nicht nur in den USA unter Druck

Während TikTok in den USA mit rechtlichen Konsequenzen konfrontiert wird, gerät die Plattform auch in Deutschland zunehmend in die Kritik. Der Bundesdrogenbeauftragte Burkhard Blienert forderte kürzlich ein Verbot von TikTok für Kinder unter 12 Jahren.

Blienert argumentiert, dass erst ab diesem Alter Jugendliche besser einschätzen könnten, wie sie soziale Medien sinnvoll nutzen. Er geht sogar noch weiter und fordert technische Einschränkungen nach Alter bis 18 Jahre, um „gefährdende Elemente auszuschließen“.

Lebensgefährliche Stunts: Auf TikTok und Co. an der Tagesordnung
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Ist TikTok tatsächlich gefährlich für Kinder?

Die Frage, ob TikTok eine Gefahr für Kinder darstellt, ist zweifellos komplex und vielschichtig. Einerseits bietet die Plattform kreative Möglichkeiten und Unterhaltung (allerdings längst nicht immer altersgerecht). Andererseits bergen Challenges wie die „Blackout Challenge“ erhebliche Risiken.

Eine Studie der Landesanstalt für Medien NRW zeigt, dass ein Drittel der Challenges auf TikTok potenziell schädlich ist. Besonders beunruhigend: Über 60 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen begegnen laut Untersuchungen der Landesanstalt für Medien auf TikTok Inhalten, die bei ihnen Unwohlsein verursachen.

Der Algorithmus als zweischneidiges Schwert

Der Empfehlungsalgorithmus von TikTok, der nun im Zentrum der rechtlichen Debatte steht, ist gleichzeitig Stärke und Schwäche der Plattform. Er sorgt für eine hohe Nutzerbindung, verstärkt aber ohne jeden Zweifel auch die Verbreitung problematischer Inhalte.

Dr. Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, kritisiert: „TikTok muss neben den offensichtlichen Nachlässigkeiten beim Schutz der Menschenwürde auch im Bereich des Jugendschutzes anfangen, seine Verantwortung ernst zu nehmen“.

Eltern in der Pflicht: Begleitung statt Verbot?

Trotz der Risiken plädieren viele Experten nicht für ein generelles Verbot. Stattdessen empfehlen sie eine aktive Begleitung durch Eltern und pädagogische Fachkräfte. Laura Kankaala, Cybersecurity-Expertin, betont die Wichtigkeit einer offenen Gesprächsatmosphäre: „Das macht es Ihren Kindern leichter, zu Ihnen zu kommen und über beunruhigende Inhalte in der App zu sprechen“.

Eltern sollten Konten ihrer Kinder unbedingt komplett anonymisieren, das Alter in TikTok richtig einstellen (viele Kinder tragen ein höheres Alter ein, damit sie keine „Nachteile“ haben) und die Sicherheitseinstellungen gemeinsam anpassen. Außerdem können Eltern die Nutzung der Kinder im eigenen Handy überwachen.

Studie der Landesanstalt für Medien

https://www.medienanstalt-nrw.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2024/default-a455c6a6ed/februar/tiktok-studie.html

TikTok Lite ist der Albtraum für Eltern

TikTok Lite ist der Albtraum für Eltern

Es gibt nicht nur TikTok, sondern auch TikTok Lite – jedenfalls in einigen Ländern. Das Problem: Die App belohnt zu viel Videos schauen. Ein Suchtmittel?

TikTok als Phänomen zu bezeichnen, ist sicher keine Übertreibung: Unter Jugendlichen ist die Video-App aus China ein regelrechter Knaller.

Jeder Jugendliche kennt die App, egal wo. Weltweit 1,5 Milliarden regelmäßige Benutzer. In Europa sind es 100 Mio., allein in Deutschland 20 Mio. Doch nun gibt es plötzlich eine zweite Version von TikTok, TikTok Lite genannt – seit einigen Tagen auch in Frankreich und Spanien verfügbar.

Und schon schlägt die EU-Kommission Alarm: TikTok Lite könnte aufgrund einiger speziellen Funktionen eine Gefahr für Minderjährige sein, so die Sorge.

TikTok ist die beliebteste App unter Jugendlichen
TikTok ist die beliebteste App unter Jugendlichen

TikTok lite verbraucht weniger Daten

Das ist eine abgespeckte Version der Video-App TikTok, die speziell für Nutzer mit langsameren Internetverbindungen oder älteren Smartphones entwickelt wurde. Sie ist eigentlich gedacht für Länder, in denen das Mobilfunknetz nicht so schnell ist oder die Handys alt und schwach. Da kann die normale TikTok-App schnell frustrierend werden, weil Videos ewig laden oder die App ruckelt.

Genau für dieses Publikum ist TikTok Lite gedacht. Die Lite Version ist deutlich kleiner und ressourcenschonender als die Haupt-App. Sie benötigt deutlich weniger Speicherplatz im Handy und läuft auch mit wenig Arbeitsspeicher flüssig.

Gleichzeitig lassen sich selbst mit einer 3G-Verbindung Kurzvideos ohne lange Ladezeiten anschauen. Aber sonst, was man kennt: Liken, teilen, selbst Videos aufnehmen. Aber eben alles reduziert.

In den USA droht ein TikTok Verbot
In den USA droht ein TikTok Verbot

TikTok belohnt grenzenloses Videosschauen

Deswegen wird TikTok Lite bislang in Schwellenländern eingesetzt, in Afrika, in Südamerika und in Teilen von Asien.

Sie hat aber noch eine andere Besonderheit – außer der Datensparsamkeit…

Richtig – und die ist nicht unerheblich. Es gibt ein Belohnungssystem. Das nennt sich „Tasks and Rewards“: Wer TikTok Lite benutzt und an diesem Reward-Programm teilnimmt wird belohnt für das Anschauen von Videos – und das Liken. Für das Folgen von bestimmten TikTok-Persönlichkeiten.

Und für das erfolgreiche Einladen von neuen Usern, die dann auch die App installieren und sich im TikTok-Universum aufhalten. Es gibt also Belohnungen für die Benutzung der App und für das Bewerben von TikTok.

Die eingesammelten Punkte lassen sich später in Amazon-Gutscheinen umtauschen – und damit können die Lite-User dann alles kaufen. Außerdem gibt es „TikTok Coins“, eine Art TikTok-Währung. Damit lassen sich dann zum Beispiel Creators bezahlen.

Das Ganze läuft also darauf hinaus, dass die die Nutzer – und das sind in erster Linie junge Menschen – noch mehr Zeit im Universum dieser App verbringen.

TikTok ist eine chinesische Video-App - und wird nun von der EU näher untersucht
TikTok ist eine chinesische Video-App – und wird nun von der EU näher untersucht

TikTok Lite in der EU

Jetzt ist die neue Version der App auch in Frankreich und Spanien verfügbar, bei uns noch nicht. Doch die EU ist alarmiert und verlangt von Betreiber Bytedance eine Erklärung. Wieso

Die EU-Kommission sagt, Betreiber Bytedance hätte nach dem neuen „Digital Services Act“ bereits vor der Veröffentlichung der App – die im Wesentlichen mit der Haupt-App gleich ist – eine Risikoeinschätzung vorlegen müssen.

Das hat der Betreiber nicht getan. Bytedance musste das binnen 24h nachholen. Es zeigt sich, dass die EU-Kommission den Digital Services Act ernst nimmt und auch anwendet.

EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton fragte öffentlich auf X, ob „TikTok lite“ nicht genauso süchtig mache wie „Zigaretten light“ – da wird ja auch durch den Namenszusatz suggeriert, es handele sich um eine viel harmlosere, weil „leichtere“ Version.

Denn die Belohnungsfunktion in TikTok Lite, so die Kritik, könne möglicherweise ein Suchtrisiko insbesondere für Minderjährige darstellen. Wer sich bei der neuen App anmelden will, müsse daher offiziell mindestens 18 Jahre alt sein.

Brüssel verlangt von TikTok daher Maßnahmen, die verhindern, dass sich Minderjährige unter Angabe eines falschen Geburtsdatums trotzdem anmelden.

Die EU und Jugendschutz

Zunächst einmal finde ich es gut und richtig, dass die EU-Kommission in diesem Fall schnell reagiert, bevor TikTok lite in ganz Europa verfügbar ist und Tatsachen geschaffen wurden.

Denn es geht in der Tat um den Jungendschutz. Und der ist auch dringend nötig. Tiktok hat schon in seiner klassischen Form mit 34 Stunden im Monat die höchste durchschnittliche Verweildauer aller Plattformen weltweit.

Wenn jetzt noch ein perfides Belohnungssystem dazu kommt, kriegt man die Kinder ja gar nicht mehr weg von der App, da sie sich unbemerkt etwas dazu verdienen können. Es ist wirklich zwingend notwendig, dass verhindert wird, dass Minderjährige das nutzen.

Aber dann bräuchte es eine wirklich funktionierende Altersverifikation, etwa mit Ausweis, bei TikTok Lite. Ich bin da sehr gespannt, denn es gibt noch viele andere Bereiche, in denen es eine valide Altersverifikation bräuchte, etwa bei Porno-Inhalten im Netz. Hier hat der Gesetzgeber viel zu lange weggeschaut. Der Fall TikTok Lite ist deswegen sehr wichtig.