Wie fragil auch Politik sein kann – selbst sogenannte „Volksparteien“ -, das erleben wir gerade: Ein langes und ein kurzes YouTube-Video reichen, um eine Partei nahezu aus den Fugen zu heben. Und die Parteichefin zeigt ihr wahres Gesicht: Passt ihr was nicht, wird gleich mit Zensur gedroht. Etwas anderes ist es nicht, wenn man die freie Meinungsäußerung einfach so einschränken möchte. Es läuft eine Menge schief.
Die einen haben einen YouTube-Kanal, um ihre Meinung zu sagen. Die anderen Pressekonferenzen oder öffentliche Auftritte.
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer wählt in der Regel Kameras und öffentliche Auftritte. Mit YouTube hat sie es nicht so. Mit freier Meinungsäußerung offensichtlich auch nicht – zumindest, sofern andere davon Gebrauch machen und/oder ihr der Inhalt schlicht nicht passt. Anders lassen sich #AKKs Ausbrüche vor der Kamera und sogar auf Twitter nicht erklären. Sie möchte den Menschen den Mund verbieten. Vor der Wahl.
Was wäre wenn …
Ich habe mich gefragt: Was wäre, wenn…? Hat die CDU-Chefin auch gemacht: „Was wäre eigentlich in diesem Lande los, wenn eine Reihe von 70 Zeitungsredaktionen zwei Tage vor der Wahl erklärt hätte, wir machen einen gemeinsamen Aufruf? Das wäre klare Meinungsmache vor der Wahl gewesen.“ Stimmt. Aber nicht verboten.
Aber weil wir gerade in der Was-wäre-wenn-Rhetorik sind: Was wäre, wenn sich zwei Tage vor der EU-Wahl 70 YouTuber zusammengetan und dazu aufgerufen hätten, die AfD nicht zu wählen?
Ebenso nicht den französischen Rassemblement National. Nicht die italienische Lega. PD. M5S. Ich bin sicher: AKK und Co. wären regelrecht entzückt gewesen. Sie hätten die freie politische Meinungsäußerung gefeiert – und den politischen Sachverstand der Jungen.
Aber wenn dieselben YouTuber unzufrieden sind mit den Herrschenden, dann wird rumgepöbelt. Annegret Kramp-Karrenbauer erweckt den Eindruck, als sei es hochgradig undemokratisch, nicht für die Regierungskoalition zu sein. Eine Gefährdung der Demokratie. Ja, schlimmer noch: Majestätsbeleidigung.
Es braucht einen Babelfisch, der zwischen Jugend und Politik dolmetscht
Wundern darf sich der Großteil der politischen Kaste meiner Ansicht nach nicht. Denn seit Monaten braucht es einen Babelfisch – den aus dem Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ bekannten Universalübersetzer – , um zwischen Politik und Jugend zu dolmetschen. Bei der EU-Urheberrechtsdebatte hat die Politik auf stur und arrogant geschaltet. Beim Klimawandel ebenso. Was erwartet Kramp-Karrenbauer denn? Ein Dankeschön von allen, die ignoriert werden? Nein, viele Menschen greifen zu den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen – und nutzen sie. Das sind heute die Sozialen Medien.
In der Politik wird gelogen, betrogen, verfälscht, manipuliert, schöngeredet und generell ausgeteilt. Jeden Tag. Und wenn sich junge Menschen Gehör verschaffen, dann kündigt die CDU-Chefin an, man müsse sich „sehr offensiv“ darüber unterhalten, ob so etwas in Zukunft geduldet werden könne. Widerspruch – wo kommen wir denn da hin? So kurz vor der Wahl. Wo doch eigentlich alles ruhig und fröhlich zugehen soll…
Man kann von dem Rezo-Video denken, was man möchte. Es gibt zweifellos eine Menge daran zu kritisieren und auszusetzen. Wer in dieser Hinsicht aber das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken will, offenbart sich – und zeigt eindrucksvoll, nichts, aber auch gar nichts verstanden zu haben.