Das Geschäft mit der geschönten Wahrheit boomt – und schadet uns allen
Sie kennen das Ritual: Bevor Sie ein neues Restaurant besuchen, werfen Sie einen Blick auf Google. Wie viele Sterne hat das Lokal? Was schreiben andere Gäste? Diese digitalen Sterne sind für Millionen Menschen zur wichtigsten Entscheidungshilfe geworden. Doch können wir diesen Bewertungen noch vertrauen?
Eine erschreckende Antwort liefert eine aktuelle Recherche der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“: Google löscht systematisch Kritik an Restaurants – und zwar nicht nur unfaire Attacken, sondern auch sachliche Beschwerden von Gästen, die einfach ihre schlechten Erfahrungen geteilt haben.
Ein lukratives Geschäft mit der Löschung
Hinter dieser Praxis steckt ein ganzer Geschäftszweig: Sogenannte „Löschagenturen“ machen Kasse damit, negative Bewertungen verschwinden zu lassen. Für nur zehn Euro pro gelöschter Bewertung versprechen sie Restaurants, gegen schlechte Kritiken vorzugehen. Die Erfolgsquote? Angeblich 80 bis 90 Prozent.
Das System funktioniert erschreckend einfach: Restaurants melden einzelne Bewertungen bei Google als „Diffamierung“ – ein Begriff, der im deutschen Recht gar nicht existiert und vermutlich gedankenlos aus dem Englischen übersetzt wurde. Google löscht dann oft vorsorglich, um sich rechtlichen Problemen zu entziehen. Lieber einmal zu viel gelöscht als eine Klage riskiert.
Die Löschagenturen nutzen diese Schwäche gnadenlos aus. Sie melden pauschal alle Ein- oder Zwei-Sterne-Bewertungen und setzen darauf, dass sich nur wenige Nutzer die Mühe machen, dagegen vorzugehen.

Wenn sachliche Kritik zur „Diffamierung“ wird
Besonders perfide: Google macht oft keinen Unterschied zwischen unfairen Angriffen und berechtigter Kritik. Die Frankfurter Allgemeine untersuchte über ein Dutzend gelöschter Bewertungen und fand haarsträubende Fälle: Ein Gast dokumentierte rohe Chicken Nuggets mit Foto – gelöscht. Ein anderer beschrieb sachlich ein zerkochtes Steak – ebenfalls verschwunden. Schlechte Beratung beim Fahrradkauf? Weg damit.
Keine Schimpfwörter, keine persönlichen Beleidigungen – trotzdem fielen diese Bewertungen der automatisierten Zensur zum Opfer. Dabei ist es unser gutes Recht zu sagen, dass uns das Essen nicht geschmeckt hat. „Schmeckt nicht“ mag keine besonders eloquente Bewertung sein, aber es ist eine ehrliche.
David gegen Goliath: Wenn Nutzer sich wehren
Theoretisch können Nutzer Einspruch einlegen, wenn ihre Bewertung verschwindet. Sie müssen ihre Kritik begründen und Belege wie Kassenzettel oder Fotos vorlegen. Doch dieser Prozess ist mühsam und zeitraubend. Genau darauf setzen die Löschagenturen: Sie bombardieren Google mit Löschanträgen und hoffen, dass sich nur wenige dagegen zur Wehr setzen.
Doch manchmal siegt die Hartnäckigkeit: Eine Berlinerin beschwerte sich über ein Café, weil ihre Rhabarberschorle nur 200 statt der beworbenen 250 Milliliter enthielt. Google löschte ihre Bewertung zunächst, gab aber nach monatelangem Hin und Her nach – die Kritik ist heute wieder online.
Solche Erfolgsgeschichten bleiben jedoch die Ausnahme. Die meisten Nutzer geben frustriert auf.

Die Glaubwürdigkeitskrise
Diese systematische Zensur untergräbt die Glaubwürdigkeit des gesamten Bewertungssystems. Wenn kritische Stimmen verschwinden, entstehen verzerrte Bilder. Restaurants mit mittelmäßigem Service präsentieren sich plötzlich als Fünf-Sterne-Lokale, weil alle negativen Bewertungen getilgt wurden.
Verbraucherschützer schlagen Alarm und raten: Verlassen Sie sich nicht nur auf Google-Sterne. Schauen Sie auch auf anderen Plattformen wie TripAdvisor nach und suchen Sie gezielt nach negativen Bewertungen. Im sozialen Netzwerk Reddit sammeln Nutzer bereits Listen von Restaurants, die offenbar systematisch schlechte Bewertungen löschen lassen.
Google behandelt Bewertungen als Massengeschäft
Das eigentliche Problem liegt in Googles Geschäftsmodell: Das Unternehmen behandelt Bewertungen als Massengeschäft und nimmt sich keine Zeit für individuelle Prüfungen. Lieber automatisch löschen als personalintensive Einzelfallprüfungen durchführen.
Diese Strategie schadet nicht nur ehrlichen Kritikern, sondern auch den Verbrauchern. Denn während echte schlechte Bewertungen verschwinden, können bezahlte Fake-Bewertungen weiter existieren. Überschwängliches Lob wirkt oft verdächtig – doch wenn die echten kritischen Stimmen fehlen, fällt das weniger auf.
Was können wir tun?
Als Verbraucher sollten wir uns nicht blind auf eine einzige Bewertungsplattform verlassen. Kombinieren Sie verschiedene Quellen: Google, TripAdvisor, Yelp und lokale Plattformen. Achten Sie auf Bewertungsmuster – wirken die Kommentare authentisch oder verdächtig gleichförmig?
Wenn Sie selbst eine berechtigte Bewertung verfasst haben und diese gelöscht wurde, legen Sie Widerspruch ein. Es ist mühsam, aber manchmal erfolgreich. Dokumentieren Sie Ihren Restaurantbesuch mit Fotos und bewahren Sie Belege auf.
Transparenz statt Zensur
Was wir brauchen, sind transparentere Regeln und echte Überprüfungen statt automatischer Löschungen. Google muss zwischen berechtigter Kritik und tatsächlichen Angriffen unterscheiden können – oder ehrlich zugeben, dass das System nicht funktioniert.
Solange das nicht passiert, leiden Verbraucher und ehrliche Gastronomen gleichermaßen. Denn auch Restaurants, die wirklich guten Service bieten, geraten in den Verdacht, ihre Bewertungen manipuliert zu haben.
Am Ende sehnen wir uns nach der guten alten Zeit kompetenter Restaurantkritiker zurück – Menschen, die wissen, wovon sie sprechen und sich nicht kaufen lassen. Denn eines ist sicher: Der Kampf um die Deutungshoheit im Netz ist in vollem Gange.