Signal droht mit EU-Ausstieg: Warum die Chatkontrolle uns alle betrifft

von | 02.10.2025 | Digital

Die Ansage sitzt: Kommt die EU-Chatkontrolle, packt Signal seine Sachen und verlässt Europa. Was nach Drama klingt, zeigt ein fundamentales Problem: Die EU plant einen Frontalangriff auf verschlüsselte Kommunikation – und Deutschland könnte das Zünglein an der Waage spielen.

Der Paukenschlag aus dem Silicon Valley

Meredith Whittaker macht keine halben Sachen. Die Signal-Chefin stellte diese Woche klar: „Wenn wir vor die Wahl gestellt werden, entweder die Integrität unserer Verschlüsselung zu untergraben oder Europa zu verlassen, werden wir den Markt verlassen.“ Das ist kein PR-Gag. Signal hat bereits bewiesen, dass sie lieber Märkte aufgeben als ihre Prinzipien – siehe Russland und Iran.

Aber worum geht’s hier eigentlich? Die EU-Kommission treibt seit drei Jahren ein Gesetz voran, das Messenger-Dienste wie WhatsApp, Signal, Telegram und Threema zwingen soll, sämtliche Kommunikation zu durchleuchten. Der offizielle Grund: Kampf gegen Darstellungen von Kindesmissbrauch. Die Methode: Client-Side-Scanning – ein sperriger Begriff für eine simple Horrorvorstellung.

Screenshots von Signal-App Funktionen für Chats

So funktioniert der digitale Generalverdacht

Stellt euch euer Smartphone wie einen Brief vor, den ihr verschließen wollt. Normalerweise packt ihr den Brief in einen Umschlag (Verschlüsselung), klebt ihn zu und schickt ihn ab. Mit Client-Side-Scanning steht plötzlich jemand neben euch, liest jeden Brief mit, macht Fotos vom Inhalt – und erst dann dürft ihr den Umschlag zukleben.

Das Perfide: Die Verschlüsselung bleibt technisch intakt. Die EU kann behaupten, sie tastet die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nicht an. Stimmt sogar – sie hebelt sie nur komplett aus, bevor sie überhaupt greift. Das ist, als würde man sagen: „Wir brechen nicht in eure Wohnung ein, wir installieren nur Kameras, bevor ihr die Tür abschließt.“

Die dänische Offensive

Aktuell hat Dänemark den EU-Ratsvorsitz inne – und die Dänen drücken aufs Gas. Am 14. Oktober soll im EU-Rat abgestimmt werden. Der dänische Vorschlag geht sogar noch weiter als frühere Versionen: Nicht nur bekannte illegale Inhalte sollen erkannt werden, sondern die KI soll auch nach „unbekannten“ verdächtigen Mustern suchen.

Was könnte da schiefgehen? Alles! Über 500 Kryptographie-Experten und Sicherheitsforscher aus 34 Ländern warnen in einem offenen Brief: Die Technologie ist „technisch untauglich“ und würde „die Privatsphäre und Sicherheit aller EU-Bürger komplett untergraben“. Diese Wissenschaftler sind keine Spinner – es sind die Leute, die unsere digitale Infrastruktur gebaut haben.

Finger tippt auf blauen Nachrichten-Symbol

Das deutsche Dilemma

Jetzt wird’s spannend: Deutschland ist der Schlüssel. Für eine Annahme braucht’s im EU-Rat 15 von 27 Staaten, die zusammen 65% der EU-Bevölkerung repräsentieren. Länder wie Frankreich, Spanien und Italien sind dafür. Die Niederlande, Österreich und Polen dagegen. Deutschland? Zögert.

Der Koalitionsvertrag der schwarz-roten Regierung verrät die Crux: Man sichere „grundsätzlich“ die Vertraulichkeit privater Kommunikation. Dieses „grundsätzlich“ ist der Gummiparagraph, der alles möglich macht. CSU-Innenminister Alexander Dobrindt und SPD-Justizministerin Manja Hubig entscheiden in den kommenden Tagen, wie Deutschland abstimmt.

Das Problem: Die Bundesregierung macht sich die Entscheidung zu einfach, wenn sie glaubt, eine Ausnahme für verschlüsselte Messenger würde reichen. Auch unverschlüsselte Kommunikation verdient Schutz. Auch E-Mails, Cloud-Uploads und Foren-Posts dürfen nicht unter Generalverdacht gestellt werden.

Die Ironie der Ausnahmen

Hier kommt der Hammer: Während normale Bürger und Unternehmen durchleuchtet werden sollen, sind Regierungs- und Militärkonten von der Überwachung ausgenommen. Die Message ist klar: Privatsphäre ist ein Privileg der Mächtigen. Für den Rest gibt’s Totalüberwachung.

Diese Doppelmoral entlarvt das wahre Problem: Es geht nicht um Kinderschutz. Es geht um Kontrolle. Wer glaubt, Kriminelle würden sich von dieser Überwachung abschrecken lassen, hat das Internet nicht verstanden. Die switchen zu anderen Tools, nutzen Steganographie oder alte Verschlüsselungsmethoden. Getroffen werden Journalisten, Whistleblower, Aktivisten, Anwälte, Ärzte – und ihr.

Was jetzt passieren muss

Die Zeit drängt. Bis zum 14. Oktober bleiben nur noch Tage. Was könnt ihr tun?

Erstens: Kontaktiert eure Bundestagsabgeordneten. Besonders die von CDU/CSU und SPD. Macht klar: Verschlüsselung ist kein Nice-to-have, sondern digitale Notwehr.

Zweitens: Sprecht darüber. Die meisten Menschen wissen nicht, was hier gerade passiert. Teilt Artikel, diskutiert in sozialen Medien, erklärt es Kollegen und Familie.

Drittens: Unterstützt Organisationen wie den CCC, die Gesellschaft für Freiheitsrechte oder epicenter.works, die gegen diese Überwachung kämpfen.

Das größere Bild

Die Chatkontrolle ist ein Testballon. Geht sie durch, wird’s nicht dabei bleiben. Als nächstes kommt die Vorratsdatenspeicherung zurück, dann biometrische Massenüberwachung, dann Social Scoring. China lässt grüßen.

Signal zeigt Rückgrat. Die Frage ist: Zeigen wir das auch? Oder lassen wir zu, dass Europa zur Überwachungszone wird, in der Privatsphäre ein Relikt der Vergangenheit ist?

Die Entscheidung fällt jetzt. Nicht in ferner Zukunft. Jetzt.

Die EU muss verstehen: Digitale Rechte sind Menschenrechte. Und die sind nicht verhandelbar.