Ein Berliner YouTuber versetzt Tausende Eltern in Angst – und verdient damit Geld. Der Fall zeigt, wie weit manche Content-Creator für Aufmerksamkeit gehen.
Mehr als 900 Notrufe innerhalb weniger Stunden. Leere Klassenzimmer in Dutzenden Berliner Schulen. Verängstigte Eltern, die ihre Kinder aus Angst vor einem Terroranschlag zu Hause behalten. Was klingt wie der Albtraum jeder Großstadt, war im November dieses Jahres bittere Realität – ausgelöst durch einen einzigen YouTuber, der eine ungeprüfte „Terrorwarnung“ über seinen Telegram-Kanal verbreitete.
Die Mechanik der Panik
Der Berliner Influencer, der unter dem Namen „Berlin Berlin TV“ firmiert, hatte eine russischsprachige Nachricht erhalten. Darin: angebliche Anschlagspläne gegen Berliner Schulen, garniert mit Fotos von Waffen. Statt die Quelle zu prüfen, statt einen Moment innezuhalten, machte er daraus sofort ein Video mit dem Titel „Akute Terrorwarnung“.
Die Polizei stellte schnell fest: Die Drohung war ein Fake. Der Telegram-Kanal hatte gerade mal zwei Abonnenten. Die Liste der angeblichen Ziele enthielt Schulen, die gar nicht mehr existieren. Doch da war die Panik längst nicht mehr aufzuhalten.
Aufmerksamkeit als Währung
Was auf den ersten Blick wie fahrlässige Dummheit wirkt, folgt einer erschreckenden Logik. In der Ökonomie der sozialen Medien gilt eine einfache Formel: Je extremer der Content, desto höher die Reichweite. Angst verkauft sich besser als Fakten. Skandale generieren mehr Klicks als sachliche Berichterstattung.
Der betreffende YouTuber ist kein Einzelfall. Er reiht sich ein in eine wachsende Szene von Content-Creatorn, die systematisch mit Emotionen spielen – und dabei billigend in Kauf nehmen, dass Menschen zu Schaden kommen. Ob erfundene Terrorwarnungen, inszenierte Notfälle oder reißerische Verschwörungstheorien: Das Geschäftsmodell bleibt dasselbe. Reichweite bedeutet Werbeeinnahmen, Spenden, Merchandise-Verkäufe.
Das System dahinter
Das Perfide: Die Algorithmen der sozialen Medien belohnen genau dieses Verhalten. Ein Post, der Angst auslöst, wird hundertfach geteilt. Ein Video, das empört, bekommt tausende Kommentare. Und jede Interaktion – ob positiv oder negativ – füttert die Reichweite.
Experten warnen seit Jahren vor dieser Entwicklung. Die Plattformen selbst tun wenig dagegen, solange die Inhalte nicht eindeutig gegen Gesetze verstoßen. Und selbst dann dauert es oft Tage, bis reagiert wird. Bis dahin hat sich die Falschinformation längst verbreitet wie ein Lauffeuer.
Die Opfer sind real
Was gerne übersehen wird: Hinter den Klickzahlen stecken echte Menschen. Eltern, die nicht mehr schlafen können. Kinder, die traumatisiert sind. Rettungskräfte und Polizisten, die von wichtigeren Aufgaben abgezogen werden. Der volkswirtschaftliche Schaden solcher Aktionen ist enorm – von den psychischen Folgen ganz zu schweigen.
Im Fall der Berliner Fake-Terrorwarnung musste die Polizei an 34 Schulen Beamte postieren. Die Notrufzentrale war stundenlang blockiert. Echte Notfälle hätten in dieser Zeit unter Umständen nicht rechtzeitig bearbeitet werden können.
Der Nährboden: eine verunsicherte Gesellschaft
Solche Aktionen fallen nicht zufällig auf fruchtbaren Boden. Nach dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz 2016, nach Magdeburg 2024, nach täglichen Meldungen über Krieg und Krise sitzt die Angst tief. Die kollektive Nervosität ist real – und genau das machen sich skrupellose Content-Creator zunutze.
Sie wissen: In einer Gesellschaft, die ohnehin verunsichert ist, braucht es nur einen Funken, um ein Feuer zu entfachen. Ein paar Triggerwörter – „Schulen“, „Anschlag“, „Terror“ – reichen aus, um eine Kettenreaktion auszulösen. Die Menschen reagieren emotional, teilen ohne nachzudenken, und der Algorithmus belohnt es mit Reichweite.
Sicherheitsexperten warnen bereits: Potenzielle Angreifer haben durch solche Fälle gelernt, wie einfach sich Panik auslösen lässt. Die nächste Falschmeldung könnte von jemandem kommen, der damit ganz andere Absichten verfolgt als nur Klicks.
Verantwortung? Fehlanzeige
Besonders erschreckend: Die Reaktion des YouTubers nach der Aufdeckung. Statt Reue oder gar eine Entschuldigung folgte die übliche Rechtfertigung: Er habe ja nur „warnen“ wollen. Die Polizei habe die Sache „unter den Teppich gekehrt“. Klassische Täter-Opfer-Umkehr, die in diesen Kreisen zum Standardrepertoire gehört.
Die Wahrheit ist: Wer ohne jede Prüfung Inhalte verbreitet, die Massenpanik auslösen können, handelt grob fahrlässig. Professionelle Journalisten würden für so etwas ihren Job verlieren. Influencer hingegen gewinnen dadurch oft sogar noch Follower – denn Kontroverse bedeutet Aufmerksamkeit.
Was sich ändern muss
Die Politik hinkt der Entwicklung hinterher. Zwar gibt es Gesetze gegen Volksverhetzung und die Verbreitung von Fake News. Doch die Strafverfolgung ist langsam, die Beweislast kompliziert. Und die Plattformen verstecken sich hinter dem Argument, sie seien ja nur Vermittler, nicht Verursacher.
Nötig wären klare Regeln: Wer mit Inhalten Geld verdient, die nachweislich Schaden anrichten, sollte dafür haften. Plattformen müssten verpflichtet werden, gefährliche Falschinformationen schneller zu entfernen. Und ja: Auch wir als Konsumenten müssen lernen, nicht jeden reißerischen Content unreflektiert zu teilen.
Das größte Problem sitzt vor dem Bildschirm
Am Ende liegt die Verantwortung auch bei uns selbst. Jeder Klick auf einen sensationsheischenden Post, jedes Teilen einer ungeprüften Warnung macht uns zu Komplizen eines Systems, das von unserer Empörung lebt.
Die Lösung beginnt mit einer simplen Frage: Ist das, was ich gerade sehe, tatsächlich wahr? Wer verbreitet es – und warum? In einer Welt, in der jeder zum Publisher werden kann, wird Medienkompetenz zur Überlebensfrage für eine demokratische Gesellschaft.
Der Berliner Fall zeigt: Die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und gemeingefährlichem Verhalten ist längst überschritten. Es wird Zeit, dass wir sie neu ziehen – bevor der nächste Influencer für seine fünf Minuten Ruhm noch größeren Schaden anrichtet.