An Social Media ist längst nichts mehr „social“: Der Kommerz diktiert die Regeln und verzerrt die Realität.
Es sollte eine Revolution werden: Eine Revolution der Kommunikation, der Vernetzung, der Teilhabe.
Doch was ist aus dem Traum der sogeannnten sozialen Medien geworden? Netzwerke der Verrohung, der Manipulation, der Erregung und vor allem des Kommerz.
Willkommen in einer Welt, in der Algorithmen unsere Aufmerksamkeit verkaufen, Influencer unsere Gefühle manipulieren und Fake News unsere Realität verzerren.
Von der Vision zur Schreckensvision
Am Anfang war zweifellos eine ernstgemeinte Vision: Eine Welt, in der jeder Mensch eine Stimme hat und jeder mit jedem Verbindung aufnehmen kann.
Eine Welt, in der Ideen, Meinungen und Erfahrungen frei ausgetauscht werden. Eine Welt, in der Freundschaften über Kontinente hinweg entstehen und Gemeinschaften zusammenwachsen.
Als Plattformen wie Facebook, Twitter und Instagram an den Start gingen, schien diese Vision zum Greifen nah. Doch was ist seitdem passiert?
Schon früh zeichnete sich allerdongs ab, dass die vermeintlich „sozialen“ Netzwerke vor allem eines sind: knallharte Geschäftsmodelle.
Eine Studie der Universität Stanford aus dem Jahr 2020 zeigt, dass die Werbeeinnahmen der Social Media-Giganten in den letzten zehn Jahren um durchschnittlich 450% gestiegen sind (Quelle: Stanford University, „The Commercialization of Social Networks“).
Der Sieg des Kommerzes über die Kommunikation
Das Prinzip ist einfach: Je länger die Nutzer auf der Plattform bleiben, desto mehr Werbung kann ihnen angezeigt werden. Und je besser die Betreiber dieser Plattformen „ihre“ User kennen, desto besser passende Werbung lässt sich ausspielen – die besser bezahlt wird.
Die Folge waren und sind Algorithmen, die darauf optimiert sind, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln – koste es, was es wolle.
Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) aus dem Jahr 2021 ergab, dass Nutzer von TikTok im Durchschnitt 90 Minuten pro Tag auf der Plattform verbringen – mehr als doppelt so lange wie noch vor zwei Jahren (Quelle: MIT Technology Review, „The TikTok Addiction“).
Doch es geht nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität. Um unsere Emotionen anzusprechen, setzen die Algorithmen auf Inhalte, die polarisieren, schockieren oder empören.
Eine Analyse der New York University aus dem Jahr 2020 zeigte, dass Posts auf Facebook, die Wut oder Entrüstung hervorrufen, fünf mal häufiger geteilt werden als neutrale Inhalte (Quelle: NYU Center for Social Media and Politics, „Anger and Outrage on Facebook“).
Die Ära der Desinformation
Die Jagd nach Aufmerksamkeit um jeden Preis hat allerdings einen äußerst gefährlichen Nebeneffekt: die Verbreitung von Falschinformationen und Verschwörungstheorien. Fake News, so zeigt eine Studie der Universität Oxford aus dem Jahr 2019, verbreiten sich auf Social Media mindestens sechs mal schneller als verifizierte Nachrichten (Quelle: Oxford Internet Institute, „The Global Disinformation Order“).
Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „Pizzagate“-Verschwörungstheorie aus dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016. Basierend auf einem fingierten Bericht über einen angeblichen Kindesmissbrauchsring in einer Washingtoner Pizzeria, wurde die Geschichte auf Social Media millionenfach geteilt und kommentiert – mit realen Folgen. Ein bewaffneter Mann stürmte schließlich das Restaurant, um die vermeintlichen Kinder zu befreien.
Ein Fall, der in die Geschichte eingegangen ist – als unrühmliches Beispiel, wie mächtig Social Media ist.
Eine Studie der Universität Warwick aus dem Jahr 2020 ergab, dass während der Corona-Pandemie bis zu 45% der englischsprachigen Tweets zum Thema COVID-19 von Bots stammten, die Falschinformationen verbreiteten (Quelle: University of Warwick, „Misinformation in the Time of Covid-19“).
Die Folgen solcher „Infodemien“ reichen von der Untergrabung des Vertrauens in wissenschaftliche Erkenntnisse bis hin zu konkreten Gesundheitsgefahren.
Die Influencer-Illusion
Doch es sind nicht nur anonyme Bots, die unsere Wahrnehmung auf Social Media verzerren. Eine zentrale Rolle spielen auch die sogenannten Influencer. Sie sind heute allgegenwärtig. Personen, die mit ihren Profilen und Inhalten eine große Reichweite erzielen und damit die Meinungen und Entscheidungen ihrer Follower beeinflussen.
Eine Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2021 zeigt, dass bei den Top 500 der deutschen Instagram-Accounts im Durchschnitt 42% der Inhalte kommerziell motiviert waren – sei es durch Produktplatzierungen, Sponsorings oder Affiliate-Links (Quelle: Universität Hamburg, „Kommerzielle Verflechtungen im deutschen Influencer-Marketing“).
Problematisch wird dies vor allem dann, wenn die kommerzielle Ausrichtung nicht transparent gemacht wird. Eine Untersuchung der Universität Augsburg aus dem Jahr 2020 ergab, dass nur 11% der von Influencern beworbenen Produkte auf Instagram als Werbung gekennzeichnet waren (Quelle: Universität Augsburg, „Schleichwerbung auf Instagram“).
Doch der Einfluss der Meinungsmacher geht weit über das Thema Werbung hinaus. Durch die scheinbar authentischen Einblicke in ihr Leben vermitteln Influencer ihren Followern oft ein verzerrtes Bild der Realität – mit negativen Folgen für das Selbstwertgefühl und die psychische Gesundheit.
Auch hier gibt es eine Studie der University of London aus dem Jahr 2021 zeigte, dass Jugendliche, die viel Zeit auf Instagram verbringen, ein erhöhtes Risiko für Essstörungen, Depressionen und Ängste aufweisen (Quelle: University of London, „Social Media Use and Adolescent Mental Health“).
Die Spaltung der Gesellschaft
Die Auswirkungen der „asozialen“ Medien beschränken sich nicht auf das Individuum – sie erfassen die gesamte Gesellschaft. Studien zeigen, dass die zunehmende Verlagerung des öffentlichen Diskurses auf Social Media-Plattformen zu einer Polarisierung und Radikalisierung der politischen Landschaft führt.
Eine Untersuchung des Pew Research Centers aus dem Jahr 2021 ergab, dass Menschen, die ihre Nachrichten hauptsächlich über Social Media beziehen, deutlich häufiger Verschwörungstheorien und extremen politischen Positionen anhängen als Nutzer traditioneller Medien (Quelle: Pew Research Center, „News Consumption Across Social Media Platforms“).
Zugleich führt die algorithmische Filterung zu sogenannten „Echokammern“, in denen sich Gleichge sinnte gegenseitig in ihren Ansichten bestärken, ohne je mit abweichenden Meinungen konfrontiert zu werden.
Eine Studie der Universität Oxford aus dem Jahr 2020 zeigte, dass Nutzer von Facebook und Twitter zu 65% häufiger mit Inhalten interagieren, die ihre eigene politische Position unterstützen, als mit solchen, die ihr widersprechen (Quelle: Oxford Internet Institute, „Echo Chambers and Political Polarization“).
Die Folge ist eine schleichende Entfremdung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen – bis hin zu einer Erosion des Vertrauens in die Demokratie selbst.
Eine Umfrage des Center for Democracy and Technology aus dem Jahr 2021 ergab, dass 54% der Amerikaner glauben, dass Social Media einen überwiegend negativen Einfluss auf die politische Diskussionskultur haben (Quelle: Center for Democracy and Technology, „Social Media and Democratic Discourse“).
Die Rückeroberung des Sozialen
Angesichts dieser alarmierenden Entwicklungen stellt sich die Frage: Ist es an der Zeit, dem Begriff „Social Media“ endgültig abzuschwören? Haben wir den Kampf um die digitale Öffentlichkeit bereits verloren?
Nicht, wenn es nach einer wachsenden Zahl von Aktivisten, Wissenschaftlern und Bürgern geht.
Weltweit formiert sich Widerstand gegen die Dominanz der Tech-Giganten – und die Forderung nach einer Neuerfindung der sozialen Medien.
Eine Studie der Harvard University aus dem Jahr 2021 zeigt, dass immer mehr Menschen auf dezentrale, werbefreie Plattformen wie Mastodon oder Diaspora setzen (Quelle: Harvard Kennedy School, „The Rise of Alternative Social Networks“).
Zugleich wächst der politische Druck auf die Betreiber der großen Netzwerke. In der Europäischen Union trat 2022 der Digital Services Act in Kraft, der unter anderem strengere Regeln für den Umgang mit illegalen Inhalten und Desinformation vorsieht.
Eine Studie der Universität Zürich aus dem Jahr 2023 kommt zu dem Schluss, dass die neuen Vorschriften zu einem spürbaren Rückgang von Hassbotschaften und Falschnachrichten auf Social Media geführt haben (Quelle: Universität Zürich, „The Impact of the Digital Services Act“).
Doch rechtliche Maßnahmen allein werden nicht ausreichen, um die sozialen Medien zu retten. Es braucht ein fundamentales Umdenken – weg vom Primat des Kommerzes, hin zu einer Kultur der digitalen Verantwortung. Plattformen müssen demokratischer, transparenter und gemeinwohlorientierter werden. Nutzer müssen sich ihrer Rolle als Bürger einer vernetzten Weltgemeinschaft bewusst werden.
An ermutigenden Beispielen mangelt es nicht. So experimentieren Projekte wie das niederländische „Public Spaces“ oder das deutsche „Netzwerk X“ mit neuen Formen der digitalen Deliberation und Partizipation.
Eine Studie der TU München aus dem Jahr 2023 bescheinigt diesen Ansätzen ein hohes Potenzial für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts (Quelle: TU München, „Digital Citizenship in the Age of Platform Capitalism“).
Hoffnung und Enttäuschung
Die Geschichte der sozialen Medien ist eine Geschichte von Hoffnungen und Enttäuschungen.
Was als Werkzeug der Emanzipation begann, droht zu einem Instrument der Entfremdung zu werden. Doch noch ist nichts verloren. Wenn wir jetzt die Weichen richtig stellen, können wir die sozialen Netzwerke zurückerobern – und zu dem machen, was sie immer sein sollten: Räume des Austauschs, der Verständigung und der Solidarität.
Dafür braucht es Mut, Kreativität und Entschlossenheit. Wir müssen neue Allianzen schmieden – zwischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Wir müssen alternative Plattformen und Praktiken fördern. Vor allem aber müssen wir uns selbst verändern – unsere Gewohnheiten, unsere Erwartungen, unsere Verantwortung.
Die Zukunft der sozialen Medien liegt in unserer Hand. Machen wir sie zu dem, was der Name verspricht: zu einem Ort, an dem das Soziale wieder im Mittelpunkt steht. Zu einem Ort der Begegnung, nicht der Spaltung. Zu einem Ort der Menschlichkeit, nicht der Entmenschlichung. Es ist unsere Entscheidung – und unsere Chance.