Wikipedia unter Beschuss: Wie rechte Kräfte gegen das freie Wissen kämpfen

von | 16.05.2025 | Internet

Wikipedia – für viele die erste Adresse, wenn es darum geht, sich schnell und zuverlässig zu informieren. Ob zur aktuellen Politik, zu historischen Ereignissen oder zum neuesten Kinofilm: Das Online-Nachschlagewerk hat sich als eine der vertrauenswürdigsten Quellen im Netz etabliert. Millionen Menschen nutzen es täglich – kostenfrei, werbefrei, gemeinschaftlich gepflegt von Freiwilligen auf der ganzen Welt.

Doch genau diese Unabhängigkeit ist jetzt in Gefahr.

Angriffe von rechts: Koordiniert und gezielt

In den letzten Monaten ist Wikipedia verstärkt ins Visier konservativer und rechtspopulistischer Akteure geraten. Der prominenteste Kritiker: Elon Musk. Der Tech-Milliardär und X-Chef (ehemals Twitter) hat öffentlich dazu aufgerufen, keine Spenden mehr an Wikipedia zu leisten. Dabei ist das Projekt dringend auf Spenden angewiesen – auch wenn die Artikel ehrenamtlich geschrieben werden, fallen Kosten für Server, Infrastruktur und Sicherheit an.

Doch Musk ist nicht allein. Die konservative Heritage Foundation, eine einflussreiche Denkfabrik aus den USA und eine zentrale Kraft hinter dem rechtsnationalen „Project 2025“ für eine mögliche zweite Trump-Regierung, hat ein internes Strategiepapier entwickelt. Ziel: Wikipedia-Autoren enttarnen – mithilfe von Gesichtserkennung und gehackten Passwortdatenbanken. Die freiwilligen Wikipedia-Autorinnen und -Autoren, die meist unter Pseudonymen arbeiten, sollen so identifiziert und „ins Visier genommen“ werden.

Und es geht noch weiter: Der Trump-nahe Staatsanwalt Ed Martin hat der Wikimedia Foundation einen Brief geschickt, in dem er mit dem Entzug des steuerbefreiten Status droht. Der Vorwurf: Wikipedia verbreite angeblich „Propaganda“ und werde von „ausländischen Akteuren“ beeinflusst.#

NY, USA – FEBRUARY 29, 2020: Homepage of wikipedia website on the display of PC, url – wikipedia.org.

Warum gerade jetzt?

Wikipedia ist mehr als eine Online-Enzyklopädie. Es ist ein Ort, an dem kollaborativ Wissen geschaffen wird – mit fast 7 Milliarden Aufrufen im Monat eine der meistbesuchten Websites der Welt. Und: Wikipedia genießt ein hohes Vertrauen. Wer hier Einfluss gewinnt, beeinflusst, was Millionen Menschen als Wahrheit betrachten.

Darum geht es in Wahrheit: Deutungshoheit im digitalen Raum.

Die Angriffe haben konkrete Anlässe. Die Heritage Foundation etwa behauptet, sie wolle gegen angeblichen Antisemitismus auf Wikipedia vorgehen. Es geht um redaktionelle Änderungen zu Themen wie dem Israel-Gaza-Konflikt. Elon Musk wiederum nennt Wikipedia abwertend „Wokepedia“ – und kritisierte, dass ein Wikipedia-Artikel seinen umstrittenen Auftritt bei Trumps Amtseinführung dokumentiert hatte, bei dem er eine Geste machte, die viele mit dem Hitlergruß assoziierten.

Aber das sind nur Vorwände. In Wahrheit geht es um Kontrolle. Während Musk Twitter/X einfach kaufen und umbauen konnte, ist Wikipedia nicht käuflich. Es gehört niemandem, ist gemeinnützig organisiert – und basiert auf Transparenz, Regeln und Quellenpflicht. Wer etwas behauptet, muss es belegen. Eine Plattform, auf der sich „alternative Fakten“ nur schwer durchsetzen lassen – ein Dorn im Auge vieler rechter Gruppen.

Elon Musk präsentiert sich gerne in starken Gesten (KI Bild)
Elon Musk präsentiert sich gerne in starken Gesten (KI Bild)

Doxing und Drohungen: Gefahr für Ehrenamtliche

Die aggressiven Versuche, Wikipedia-Autoren zu enttarnen, sind keine Lappalie. Das sogenannte Doxing – das Veröffentlichen persönlicher Daten im Netz – kann reale Folgen haben: Bedrohungen, Belästigungen, im schlimmsten Fall sogar Gewalt.

Bereits 2021 wurden pro-demokratische Wikipedia-Autoren in Hongkong durch regierungsnahe Kräfte enttarnt – einige von ihnen wurden später angegriffen. Der US-Journalist und Wikipedia-Experte Stephen Harrison warnt, dass die Strategie der Heritage Foundation exakt diesem Muster folge.

Auch rechtliche Drohungen, wie sie Staatsanwalt Ed Martin ausspricht, haben eine abschreckende Wirkung – insbesondere für Autoren, die sich mit politisch sensiblen Themen beschäftigen. Die Wikimedia Foundation reagiert: Sie entwickelt neue Schutzmechanismen, um die Anonymität ihrer Mitarbeitenden besser zu wahren – Strategien, die sonst in autoritären Staaten wie Russland oder China eingesetzt werden.

Warum das für uns alle relevant ist

Wikipedia steht exemplarisch für ein freies, kollaboratives Internet. Eine Plattform, die auf Vertrauen, Gemeinschaft und Fakten basiert – und sich bislang erstaunlich gut gegen Manipulationsversuche behauptet hat. Doch diese Widerstandskraft ist nicht selbstverständlich.

Die Angriffe zeigen: Das freie Netz ist unter Druck. Nicht nur Wikipedia, auch andere offene Projekte wie Archive.org oder OpenStreetMap sind anfällig für gezielte Einflussnahme. Wer glaubt, es gehe „nur“ um ein paar Artikel über Trump oder Israel, verkennt das eigentliche Ziel: Die Diskreditierung von faktenbasiertem Wissen und die Errichtung einer kontrollierbaren Informationswelt.

Wikipedia bleibt auch in Zeiten von KI ein Leuchtturm
Wikipedia bleibt auch in Zeiten von KI ein Leuchtturm

Es gibt auch gute Nachrichten

Trotz der Angriffe hält die Wikipedia-Community dagegen. Die Stiftung investiert in Sicherheitsmaßnahmen. Freiwillige bleiben aktiv. Und die öffentliche Unterstützung wächst: Nachdem Elon Musk zum Spendenboykott aufgerufen hatte, stiegen die Spenden sogar an – viele gaben explizit an, aus Protest gegen Musk zu handeln.

Ein deutliches Zeichen: Auf einem Wikipedia-Treffen in der Brooklyn Public Library meldeten sich kürzlich über 1.200 Menschen an – mehr als je zuvor.

Fazit: Ein Weckruf für das freie Netz

Was sich gerade abspielt, ist mehr als ein Angriff auf eine Website. Es ist ein Angriff auf die Idee, dass wir gemeinsam, transparent und faktenbasiert Wissen aufbauen können – unabhängig von politischen oder wirtschaftlichen Interessen.

Wikipedia braucht unsere Unterstützung. Nicht nur finanziell, sondern auch ideell. Indem wir die Plattform nutzen, sie kritisch begleiten – und uns schützend vor die stellen, die sie mit Leben füllen.

Denn eines ist klar: Wenn wir zulassen, dass Wikipedia unterwandert oder eingeschüchtert wird, steht nicht weniger als die Informationsfreiheit im Netz auf dem Spiel.