DIA: Der KI-Browser, der das Web neu erfindet

von | 12.06.2025 | Internet, KI

Ein augenöffnender Blick auf The Browser Company’s radikales Experiment

Die Digitalisierung hat uns in den letzten 25 Jahren so ziemlich alles verändert – nur nicht den Browser. Chrome, Safari und Firefox funktionieren im Kern immer noch wie Netscape damals.

Tabs stapeln sich, Lesezeichen verstauben, und wir machen uns selbst dafür verantwortlich, dass wir ständig überfordert sind. Doch jetzt könnte sich das fundamental ändern. DIA, der neue KI-Browser von The Browser Company, verspricht nichts Geringeres als eine Revolution – und zeigt dabei eine Zukunft auf, die faszinierend und beunruhigend zugleich ist.

Bei DIA muss man nichts zwei Mal eingeben, weil sich der Browser alles merkt - dank KI
Bei DIA muss man nichts zwei Mal eingeben, weil sich der Browser alles merkt – dank KI

Der Mann hinter der Vision: Josh Miller und sein radikaler Wandel

Josh Miller, CEO und Mitgründer von The Browser Company, ist kein gewöhnlicher Tech-Unternehmer. Zwischen 2015 und 2017 war er Produktdirektor im Weißen Haus unter Obama, davor verkaufte er sein Startup Branch an Facebook. Nach seinem Studium in Princeton baute er schon früh experimentelle soziale Produkte, die „nachdenklichere Gespräche im Internet fördern“ sollten. Miller ist ein Idealist mit Geschäftssinn – und das zeigt sich in seinem neuesten Projekt.

„Stellt euch vor, ihr würdet einen Aufsatz darüber schreiben, warum ihr euer Kerzengeschäft bei der Erfindung des elektrischen Lichts aufgebt“, schreibt Miller in seinem bemerkenswerten Brief an Arc-Nutzer. „Traditionelle Browser, wie wir sie kennen, werden sterben. Genauso wie Suchmaschinen und IDEs neu erfunden werden.“ Diese provokante These ist das Fundament von DIA.

Was DIA anders macht: KI als Betriebssystem

DIA ist nicht einfach ein Browser mit einem ChatGPT-Button. Der Browser basiert auf Chromium und sieht zunächst vertraut aus, aber die Adressleiste fungiert gleichzeitig als Schnittstelle für den integrierten KI-Chatbot. Das System kann weit mehr als nur Fragen beantworten:

Kontextbewusstsein: DIA sieht deine Tabs, offenen Sessions und digitalen Muster. Du kannst Webseiten zusammenfassen lassen, Informationen aus mehreren Tabs vergleichen oder E-Mails basierend auf deinem Schreibstil verfassen.

Personalisierung durch Gespräch: Statt komplizierter Einstellungsmenüs passt du DIA durch natürliche Sprache an. Du kannst mit dem Chatbot sprechen, um den Tonfall, Schreibstil und Coding-Einstellungen anzupassen.

Automatisierte Aktionen: In den Demos zeigt der Browser, wie er eigenständig Aufgaben erledigt – von der Produktsuche auf Amazon bis zum Versenden von E-Mails an Teammitglieder basierend auf Notion-Tabellen.

Skills-System: The Browser Company baut ein System von „Skills“ auf bestehenden KI-Modellen auf, das jede Aufgabe mit dem besten KI-Tool und der passenden Benutzeroberfläche verknüpft.

dia shop

Der Abschied von Arc: Ein schmerzhaftes Erwachen

Um DIA zu verstehen, muss man die Geschichte von Arc kennen. Arc war innovativ und wurde von Enthusiasten geliebt, aber es war „einfach zu anders, mit zu vielen neuen Dingen zu lernen, für zu wenig Belohnung“. Nur 5,52% der täglichen Nutzer verwendeten mehr als einen Space regelmäßig, nur 4,17% nutzten Live Folders – die Kernfunktionen, auf die das Team so stolz war.

Miller gibt zu: „Ich hätte ein Jahr früher aufgehört, an Arc zu arbeiten. Alles, was wir schlussendlich erkannten – über Wachstum, Nutzerbindung, wie Menschen es tatsächlich verwendeten – hatten wir bereits in den Daten gesehen. Wir wollten es nur nicht wahrhaben.“

Diese Ehrlichkeit ist bemerkenswert in einer Branche, die Misserfolge gerne als „Pivot“ oder „Lernexperience“ vermarktet. The Browser Company hat verstanden: Revolution durch Komplexität funktioniert nicht. Revolution durch Vereinfachung schon.

Die technische Revolution unter der Haube

DIA ist nicht nur ein neues Interface – es ist eine komplett neue Architektur. Das Unternehmen hat sein Arc Development Kit (ADK) entwickelt, ein internes SDK für den Bau von Browsern mit „fantasievollen Benutzeroberflächen“. Das ermöglicht ehemaligen iOS-Ingenieuren, schnell native Browser-UIs zu prototypisieren, ohne C++ zu berühren.

Hursh Agrawal, CTO von The Browser Company, betont: „Alle deine Daten werden verschlüsselt auf deinem Computer gespeichert. Wenn etwas zur Verarbeitung an unseren Service gesendet wird, bleibt es dort nur Millisekunden und wird dann gelöscht.“ Das ist ein wichtiges Versprechen in Zeiten, wo Datenschutz zur existenziellen Frage wird.

Viele positive Eigenschaften, nur über den Datenschutz müssen wir reden
Viele positive Eigenschaften, nur über den Datenschutz müssen wir reden

Die dunkle Seite der Browser-Revolution

Doch bei aller Innovation wirft DIA kritische Fragen auf. Wem gehören unsere Daten wirklich? Über ein Opt-in-Feature namens „History“ kann der Browser sieben Tage deiner Browsing-Geschichte als Kontext für Anfragen verwenden. Was harmlos klingt, ist ein beispielloser Einblick in unsere digitalen Leben.

Algorithmic Bias: Wenn ein KI-System entscheidet, welche Amazon-Produkte es für dich auswählt oder wie es deine E-Mails formuliert, wessen Vorurteile spiegelt es dann wider? The Browser Company hat bisher wenig über die Training-Daten oder Bias-Mitigation ihrer Modelle gesagt.

Monopolisierung durch Komfort: DIA verspricht, dass du „nie wieder ChatGPT, Perplexity oder Claude besuchen musst“. Das Unternehmen hofft, sich in den Nutzerfluss einzuklinken und eine einfache Möglichkeit zur AI-Nutzung zu bieten, ohne dass man die Websites dieser Tools besuchen muss. Das ist praktisch – aber konzentriert es die Macht über KI-Zugang nicht bei wenigen Browsern?

Der gläserne Nutzer: DIA versteht deine Tabs, Sessions und digitalen Muster. Das ermöglicht beeindruckende Personalisierung, aber auch totale Überwachung. Selbst wenn die Daten lokal gespeichert werden – wer garantiert, dass das so bleibt?

Die Zukunft des Internets: Webseiten vs. Chat-Interfaces

Miller macht eine gewagte Vorhersage: „Webseiten werden nicht mehr die primäre Schnittstelle sein. Traditionelle Browser wurden gebaut, um Webseiten zu laden. Aber zunehmend werden Webseiten – Apps, Artikel und Dateien – zu Tool-Aufrufen mit KI-Chat-Interfaces.“

Das ist eine radikale Vision. Stellt euch vor: Statt Amazon.de zu besuchen, fragt ihr einfach „Finde mir nachhaltige Laufschuhe unter 150 Euro“ und der Browser erledigt den Rest. Statt News-Websites zu durchforsten, lasst ihr euch die wichtigsten Entwicklungen eures Fachgebiets zusammenfassen.

Gleichzeitig betont Miller: „Das Web wird nicht verschwinden – zumindest nicht so bald. Figma und The New York Times werden nicht weniger wichtig. Euer Chef wird die SaaS-Tools eures Teams nicht aufgeben.“ Die Zukunft liegt in der Verschmelzung: Browser und KI, Webseiten und Chat-Interfaces, Vertrautes und Revolutionäres.

Die Konkurrenz schläft nicht

DIA steht nicht allein da. Google kündigte an, seinen Gemini-KI-Assistenten bald in Chrome zu integrieren, der viele der gleichen Funktionen wie DIAs Chatbot beherrschen wird. Operas kommender Neon-Browser bewirbt sich ebenfalls als „vollständig agentisch“.

Der Kampf um die Zukunft des Browsings hat begonnen. Und er wird darüber entscheiden, wer die Infrastruktur unserer digitalen Zukunft kontrolliert.

Datenschutz in der KI-Ära: Ein zweischneidiges Schwert

„DIA existiert, um das Internet zu verbessern, nicht um mit deinen persönlichen Daten Profit zu machen“, verspricht das Unternehmen. „Wir glauben, dass es an dir liegt, anzupassen, was du siehst und was du teilst.“

Das klingt nobel, aber die Realität ist komplexer. Auch wenn DIA nicht direkt Daten verkauft, sammelt es sie. Agrawal hofft, dass „fast alles in DIA lokal passieren kann“ – aber „fast alles“ ist nicht „alles“. Und lokale Verarbeitung schützt nicht vor Datenlecks, Hacker-Angriffen oder Änderungen der Geschäftspolitik.

The Browser Company verspricht Transparenz, aber veröffentlicht keine Audits ihrer Datenschutzpraktiken. In einer Zeit, wo KI-Systeme mit unseren intimsten digitalen Gewohnheiten trainiert werden, reichen Versprechungen nicht aus – wir brauchen Beweise.

Die demokratische Frage: Wer baut die Zukunft?

DIA wirft eine fundamentale Frage über die Zukunft der Technologie auf: Wer entscheidet, wie wir mit dem Internet interagieren? The Browser Company wurde ursprünglich bei Thrive Capital inkubiert, einem Venture-Capital-Fonds mit Milliarden unter Verwaltung. Das Unternehmen hat über 17 Millionen Dollar von Investoren aufgebracht, darunter die Gründer von Instagram, Stripe, Twitter, Zoom, Figma und LinkedIn.

Das ist kein Startup in einer Garage – das ist Big Tech mit einem freundlichen Gesicht. Miller ist ehrlich: „Wenn das Ziel gewesen wäre, ein kleines, profitables Unternehmen mit einem großartigen Team und loyalen Kunden zu bauen, hätten wir nicht versucht, den Nachfolger des Webbrowsers zu entwickeln – der ubiquitärsten Software, die es gibt.“

Fazit: Die Zukunft ist da – die Frage ist, wem sie gehört

DIA ist mehr als ein Browser – es ist ein Blick in eine Zukunft, wo KI die Art verändert, wie wir mit Information interagieren. „In fünf Jahren werden die meistgenutzten KI-Interfaces auf dem Desktop die Standard-Browser von gestern ersetzen“, prophezeit Miller. „Der nächste Chrome wird gerade jetzt gebaut. Ob es DIA ist oder nicht.“

Die Technologie von DIA ist beeindruckend. Die Vision ist kühn. Aber die Auswirkungen sind noch nicht absehbar. Werden KI-Browser uns produktiver machen oder abhängiger? Werden sie das Internet demokratisieren oder zentralisieren? Werden sie unsere Privatsphäre schützen oder sie zur ultimativen Ware machen?

The Browser Company hat mit Arc bewiesen, dass sie innovative Software bauen können. Mit DIA zeigen sie, dass sie bereit sind, alles über Bord zu werfen, um etwas völlig Neues zu schaffen. „Wir steigen aus dem Kerzengeschäft aus“, sagt Miller. „Das solltet ihr auch.“

Die Frage ist nur: Was folgt nach den Kerzen? Und wer kontrolliert das Licht?


DIA befindet sich derzeit in der Beta-Phase und ist nur auf Einladung verfügbar. Arc-Nutzer erhalten prioritären Zugang. Die Zukunft des Browsings beginnt jetzt – aber wer sie schreibt, steht noch nicht fest.