Die Browser-Kriege sind zurück – und diesmal geht’s um KI

von | 05.11.2025 | Internet, KI

Erinnert ihr euch noch an die Browser-Kriege? Internet Explorer gegen Netscape, später dann Chrome gegen Firefox? Damals kämpften sie um Marktanteile und Ladezeiten. Heute ist das Schlachtfeld ein anderes: Künstliche Intelligenz. Und plötzlich ist Googles Chrome-Dominanz nicht mehr so unantastbar, wie sie noch vor ein paar Monaten aussah.

OpenAI hat gerade seinen Browser „ChatGPT Atlas“ vorgestellt – ein direkter Angriff auf Googles Kerngeschäft. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs: Perplexity bringt seinen Browser „Comet“ auf den Markt, Opera positioniert sich mit „Neon“ neu als KI-Browser, und Google selbst integriert sein Gemini-KI-Modell tiefer in Chrome. Nach Jahren relativer Ruhe ist der Browser-Markt plötzlich wieder richtig spannend.

ChatGPT im Browser – oder Browser in ChatGPT?

Was macht Atlas so besonders? Im Grunde ist es ChatGPT, das sich als vollwertiger Browser verkleidet hat. Die Benutzeroberfläche sieht aus wie euer gewohnter ChatGPT-Chat, hat aber Tabs wie Chrome. Die KI sitzt permanent in einer Sidebar und kann auf jeder beliebigen Webseite Fragen beantworten, Texte zusammenfassen oder Informationen herausfiltern – ohne dass ihr ständig kopieren und einfügen müsst.

Das klingt praktisch, ist aber nicht völlig neu. Google hat Gemini bereits in Chrome integriert, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Während Gemini als Pop-up-Fenster erscheint und den Bildschirminhalt überdeckt, bleibt ChatGPT in Atlas dezent in der Sidebar. Das mag wie eine Kleinigkeit klingen, macht im Alltag aber durchaus einen Unterschied – vor allem, wenn ihr die KI ständig nutzt.

Interessant ist auch, dass OpenAI Atlas global verfügbar macht, zunächst für macOS, später für Windows, iOS und Android. Google hingegen hat Gemini in Chrome bisher nur in den USA ausgerollt. Das bedeutet: 96% der Weltbevölkerung können Atlas ausprobieren, aber nicht Gemini in Chrome. Ein taktischer Fehler von Google? Durchaus möglich. Denn während die Tech-Welt über Atlas diskutiert, bleibt Gemini in Chrome für die meisten unsichtbar.

ChatGPT Atlas für macOS herunterladen
ChatGPT Atlas für macOS herunterladen

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache

Chrome beherrscht mit rund drei Milliarden Nutzern immer noch den Markt. ChatGPT hat mittlerweile über 800 Millionen wöchentliche User. Das sind unterschiedliche Größenordnungen, aber die Wachstumsrichtung zählt. Die jüngere Generation chattet bereits täglich mit KI – und den nächsten logischen Schritt, diese Gewohnheit in einen Browser zu packen, geht OpenAI jetzt.

Google ist übrigens nicht wehrlos. Der Tech-Riese hat seine Hausaufgaben gemacht und Gemini immer tiefer ins Chrome-Ökosystem integriert. KI-Zusammenfassungen erscheinen direkt in den Suchergebnissen, Gemini kann Webseiten analysieren und Fragen beantworten. Google experimentiert außerdem mit einem Web-Agenten, der bestimmte Aufgaben selbstständig erledigen kann.

Trotzdem: Die Tatsache, dass Google im September 2024 Chrome behalten durfte und nicht verkaufen musste – eine Entscheidung in einem Kartellverfahren – hatte auch mit KI zu tun. Der Richter argumentierte, dass durch neue KI-Browser plötzlich echte Konkurrenz entstehe. Ironischerweise hatte OpenAI selbst Interesse bekundet, Chrome zu kaufen, falls Google es verkaufen müsste.

Person nutzt Computer mit AI-Interface

Was steckt technisch dahinter?

Fast alle neuen „KI-Browser“ – Atlas, Comet, sogar Opera – basieren auf Chromium, der Open-Source-Technologie hinter Chrome. Einen komplett eigenen Browser von Grund auf zu entwickeln, ist extrem aufwendig und teuer. Selbst Microsoft hat irgendwann aufgegeben und Edge auf Chromium umgestellt.

Das bedeutet: Die eigentliche Innovation liegt nicht in der Browser-Engine, sondern in der KI-Integration. Atlas macht aus einem Chrome-Tab im Grunde eine vollwertige Arbeitsumgebung. Ihr könntet Safari für die normale Arbeit nutzen und parallel Atlas für KI-gestützte Recherchen oder kreatives Brainstorming.

Ein cleveres Feature von Atlas: Scrollende Tabs. Wenn ihr wie ich gerne 20 oder mehr Tabs gleichzeitig offen habt, werden die in Chrome irgendwann winzig klein – bis nur noch ein „X“ zu sehen ist. In Atlas bleiben die Tabs immer in voller Größe, ihr scrollt einfach durch sie hindurch. Klingt banal, macht aber einen Unterschied.

Agenten übernehmen (bald) das Ruder

Der eigentliche Game-Changer sind allerdings KI-Agenten. Diese können in Atlas aktiv Aufgaben übernehmen – Recherchen durchführen, Reservierungen vornehmen, Einkäufe tätigen. Noch sind diese Funktionen begrenzt und teilweise zahlenden Nutzern vorbehalten. Aber die Richtung ist klar: Der Browser wird zum persönlichen Assistenten, der nicht nur Informationen liefert, sondern aktiv handelt.

Sam Altman, CEO von OpenAI, formuliert es so: „Der Browser ist der Ort, an dem eure gesamte Arbeit, eure Tools und euer Kontext zusammenkommen. Ein Browser mit ChatGPT bringt uns einem echten Super-Assistenten näher, der eure Welt versteht und euch beim Erreichen eurer Ziele hilft.“

Das klingt ambitioniert – und wirft Fragen auf. Datenschutz zum Beispiel. Atlas sammelt Browserverläufe und erstellt „Erinnerungen“ über euer Online-Verhalten. Das müsst ihr aktiv einschalten, aber es zeigt, wohin die Reise geht: KI braucht Kontext, um wirklich nützlich zu sein. Google hat diesen Kontext bereits durch Chrome. OpenAI holt auf.

Comet Browser von Perplexity bringt KI in den Browser
Comet Browser von Perplexity bringt KI in den Browser

Wer gewinnt die neuen Browser-Kriege?

Ehrlich gesagt: Noch ist völlig offen, wie das ausgeht. Chrome hat einen gigantischen Vorsprung, eine riesige Nutzerbasis und das gesamte Google-Ökosystem im Rücken. Atlas ist gerade mal ein paar Wochen alt und hat durchaus Kinderkrankheiten – die Speicherfunktion funktioniert nicht immer zuverlässig, und manche Features wirken noch halbfertig.

Aber OpenAI hat einen entscheidenden Vorteil: Die Marke ist bereits das Synonym für die KI-Zukunft. Als Atlas angekündigt wurde, verlor Google kurzzeitig fast 100 Milliarden Dollar an Börsenwert. Nicht weil Atlas so revolutionär ist, sondern weil die Investoren glauben, dass OpenAI die Zukunft definiert.

Perplexitys Comet ist technisch vielleicht sogar ausgereifter – aber OpenAI hat die Aufmerksamkeit und die Nutzer. Und das zählt am Ende mehr als Features.

Die Frage ist nicht, ob KI die Browser verändert – das tut sie bereits. Die Frage ist: Wer kontrolliert diese Veränderung? Wer definiert, wie wir in fünf Jahren durchs Internet navigieren? Google hatte zwei Jahrzehnte lang die Antwort. Jetzt wird neu verhandelt.

Und für uns Nutzer? Das könnte tatsächlich spannend werden. Denn zum ersten Mal seit langem gibt’s echte Innovation im Browser-Bereich – und echten Wettbewerb. Das war längst überfällig.